Das Licht des unendlichen Bewusstseins

Von Omkarananda, Swami

Schwab (Heinrich) Verlag, o.J., 188 S., Buchleinen

ISBN: 978-3-7964-0203-6

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Ich schließe meine Augen und stelle mir den Hamburger Hauptbahnhof vor. Alles, was ich sehe, geschieht in meiner Vorstellung, in meinen Gedanken. Im Geist sehe ich die Menschen dort, die Züge, die Gepäckwagen. Jemand erfrischt sich mit einem Tee. Einer liest auf dem Bahnsteig eine Zeitung. Ein anderer rennt, um den Zug auf Gleis sieben noch zu erreichen. Plötzlich öffne ich die Augen. Der ganze Bahnhof, alles ist verschwunden.
Woraus war alles gebildet? Aus Gedankenbildern, aus der Substanz des Gedankens, aus dem Licht des Gedankens, aus Bewusstseinslicht. Wenn ich meine Gedanken davon abwende, ist alles verschwunden.

Angenommen, die Menschen meines Gedanken- oder Vorstellungsgebildes verfügten über ein eigenes starkes, persönliches Ich-Bewusstsein wie die Menschen unserer Welt. Dann würden sie mir erwidern: "Was du da sagst, ist nicht wahr. Wir sind eine unabhängige Wirklichkeit für uns und verschieden von dir. Siehst du denn nicht, dass jeder von uns seine jeweils verschiedene Funktion ausübt?"
Trotzdem hätte ich zu den Menschen, die ich auf dem Bahnhof sah, sagen können: "Ihr seid alle aus meinen Gedanken gebildet. Ihr seid alle Verkörperungen meines Verstandeslichts, meiner Vorstellungskraft, meines Bewusstseinslichts", und hätte damit eine reine Tatsachenfeststellung getroffen. Ich brauche meine Aufmerksamkeit nur abzulenken, um alles wieder aufzulösen.

In jedem von uns gibt es ein Bewusstsein, das auch dann noch wach ist, wenn wir in tiefer Ohnmacht liegen. Ein Bewusstsein, das den Traum des Schläfers zwar sieht und ihn versteht, aber niemals in ihn einbezogen ist. Ein Bewusstsein, das auch dann, wenn wir in tiefen Schlaf versunken sind, nicht schläft, auch wenn wir uns darüber nicht bewusst sind - und das am Morgen sagt: "Da bist du ja wieder! Du hast gut geschlafen!"
Die Auskunft gab uns nicht unser Verstand: Wäre er aktiv gewesen, dann hätten wir keinen Tiefschlaf gehabt. Er setzt voraus, dass das Denken völlig zur Ruhe gekommen ist.

Wenn unser Inneres zur Ruhe kommt, fängt etwas in uns an, die aufsteigenden Gedanken zu beobachten. Dringen wir noch ein bisschen tiefer in die Stille ein und beobachten wir genauer, dann finden wir, dass noch ein weiterer Beobachter im Hintergrund steht, der den Beobachter der Gedanken beobachtet. Dieser Hintergrundbeobachter lässt sich seinerseits wieder beobachten. Je weiter wir diesen Prozess vorantreiben, umso näher kommen wir einem Beobachter, der keiner weiteren Beobachtung mehr zugänglich ist, aber jede Beobachtung erst möglich macht, einem letzten Beobachter.
Das gilt ausschliesslich für die Stufe der Reflexion, der gedanklichen Beobachtung. Wenn wir von diesem Stadium des Nachdenkens weiter zum eigentlichen Zustand der Meditation vordringen, erreichen wir ein tieferes und angemesseneres Wissen über dieses fundamentale, alles bezeugende Bewusstsein in uns.

Die Gegenwart dieses innersten Bewusstseins, dieses Zeugenbewusstseins, das alles beobachtet und seinerseits von keiner menschlichen Geisteskraft mehr erfasst werden kann, ist nichts anderes als Gott selbst.
Dieser letzte Beobachter aller Bewusstseinsfunktionen ist aufs höchste potenziertes Bewusstsein, ist voll Licht, voll Intelligenz. Intelligenz und Bewusstsein sind ihrem Wesen nach Licht. Intelligenz und Licht - was sind sie letztlich anderes als Erkennen?
Alle Funktionen der Sinne einschließlich des Denkvermögens sind ihrerseits von diesem alles bezeugenden Bewusstsein abgeleitet. Es ist seinem Wesen nach Licht. Wenn wir uns z.B. aus der Erinnerung vorstellen, wo sich in einer Stadt ein bestimmtes Haus befindet, sehen wir unter Verzicht des äusseren Sehorgans. Auch ein Schlafender sieht im Traumzustand. Auch in hypnotischen Zuständen sieht man, hier im Licht des psychischen Wesens.
Auch jemand, der mit übernormalen Kräften ausgestattet ist, sieht mit geschlossenen Augen. Er sieht, was sich in hundert Jahren an einem bestimmten Ort ereignet etc. In welchem Licht sieht er die Zukunft? Er sieht sie im höheren psychischen Licht. Hinter diesem Licht in uns befindet sich das göttliche Licht, das Licht, das über allen Lichtern ist. Dieses höhere Licht oder Bewusstsein ist Sitz endloser geistiger Fähigkeiten wie auch anderer Kräfte und Möglichkeiten.

Was verleiht deinem Körper Wärme? Wäre kein Bewusstsein in ihm, hätte sich die Seele zurückgezogen, dann wäre der Körper starr und kalt. Was gibt ihm also Wärme? Wir nennen es Lebenskraft, hinter der als belebendes Element die Seele steht. Was ist in der Seele? Das göttliche Bewusstsein. Woher kam diese Wärme also? Sie stieg aus dem göttlichen Bewusstsein in dir auf. Es ist also etwas wie Feuer - oder sagen wir, ein feinstoffliches Feuer - im inneren Bewusstseinsgrund deiner Seele.
Es läutert alles. Es ist Schönheit. Es ist das, wonach ein Beethoven und Bach, ein Raphael und Michelangelo Ausschau hielten. Es ist schöpferisch. Es ist transzendent. Es ist Licht. Es ist das Feuer des unendlichen Bewusstseins in dir. Dieses Unendliche, dieses reine Bewusstsein, dieses Licht ist die Mitte unseres Seins. In ihm sind wir unsterblich und unzerstörbar. - Es ist eins mit dem Feuer des unendlichen Bewusstseins in allem. Weil es vorhanden ist, kann unser Wissen grenzenlos sein, können wir an unendlichem Frieden, endlosem Glück und unbegrenzter Macht teilnehmen.

Solange ein Eisberg Eisberg bleibt, begreift er nicht, dass er mit dem weiten Ozean eins ist. Er erfährt sich vom Ozean getrennt, auch wenn er aus ihm geboren und erhalten wird. Er sieht sich von allen anderen Eisbergen isoliert. Wie nun, wenn er Bewusstsein hätte? Er würde begreifen, dass er in Wirklichkeit der Erhalter der unzähligen Lebewesen im Meer ist und alle anderen Eisberge aus ihm hervorgingen, dass er in seiner Majestät grenzenlos und unzerstörbar ist, dass er niemals austrocknen oder sich in nichts auflösen kann.
So wie das Eis der eine der möglichen Aggregatzustände von Wasser ist, so ist die Welt die eine Zustandsform des Bewusstseins, des Lichts. Solche Personen, die das Eis nicht mehr als Eis sehen möchten, haben die Freiheit, es in Wasser zu verwandeln. Und die Leute, die unsere Welt nicht mehr in ihrem Zustand der Begrenzung erleben wollen, können dieses Bewusstsein in Erfahrung bringen.

Materie und Bewusstsein sind die zwei Seiten einer Münze. Einmal nimmt das gleiche Sein die Form und den Namen der Materie an, das andere Mal ist es ungeformt und heisst Bewusstsein.
Unwissenheit bedeutet Nichterkennen, dass Materie Bewusstsein ist und umgekehrt, dass beide ihre Existenz im unendlichen Sein der einen absoluten Wirklichkeit haben.
Deshalb können wir, auch wenn wir nichts in der Hand haben, doch alles besitzen. Ohne einen Schritt zu machen, können wir überall sein. Ohne jemanden zu berühren, können wir im Herzen aller Wesen wohnen. Die Freuden eines solchen Bewusstseins, eines solchen Lichts, sind zahllos und unbeschreiblich.

Autor/in:

Dem Mystiker und Weisen Swami Omkarananda, geb. 1929 am Weihnachtstag, wurde schon im Kindesalter die Erfahrung der Allgegenwart, Allwisssenheit und Allmacht Gottes zuteil. Mit 16 verließ er seine Familie in Südindien und begab sich in den Himalaya zu Swami Sivananda, einem der großen Weisen unserer Zeit. Dieser erkannte die göttliche Natur des jungen Gottliebenden (er nannte ihn 'boy sage') und nahm ihn 1947 in seinen von Shankaracharya gegründeten Mönchsorden auf. Viele Jahre widmete sich Swami Omkarananda intensiv vergleichenden Studien aller Wissenschaften von Ost und West, um sich auf seine Mission vorzubereiten. Er schrieb zahlreiche Bücher, die auch große internationale akademische Anerkennung fanden. Die letzten 35 Jahre seines irdischen Daseins, von 1965-2000, lebte, lehrte und wirkte er in vollkommen selbstlosem, dynamischem Dienst an seinen Mitmenschen in Europa. Hier gründete er auch diverse gemeinnützige Institutionen. Leben und Werk sind Ausdruck seiner universalen Liebe, die sich immer in Taten manifestierte, seiner endlosen Geduld, seiner außergewöhnlichen Sprach- und Dichtkunst und seines umfassenden Verständnisses von Philosophie und Psychologie.



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