Unerhörte Leiden

Die Geschichte der Schmerztherapie in Deutschland im 20.Jahrhundert. Habilitationsschrift

Von Witte, Wilfried

CAMPUS VERLAG, 2017. 402 S. 213.0 mm, KT Maße: 14 x 21.5

ISBN: 978-3-593-50660-9

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Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten? Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.§09§1. Einführung

Das 20. Jahrhundert zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Deutungshoheit darüber, was Wissen ist und was dann zu wissen war, wenn nicht ideologische Bevormundung griff, zu einem großen Teil den Wissenschaften zugesprochen wurde [114]. Auf die eine oder andere Weise gerieten Debatten, die in den Wissenschaften geführt wurden, auch in breitere Kreise der Bevölkerung, ohne dass ursprüngliche theoretische Ansätze dann noch aufzuspüren sein mussten. So verhält es sich beispielsweise mit einer Studie der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry [681], die in den Kulturwissenschaften seit 1985 weite Kreise zog, während sie durch die Radikalität ihres Ansatzes seither das Potential hat, außerhalb von fachwissenschaftlichen Erörterungen Verwirrung zu stiften. Ohne religiöse Auslegungen bemühen zu müssen, betrachtete Scarry Schmerz und das Zufügen von Schmerzen in einem Zusammenhang. Im Extrem der Folter oder des Krieges würde die Welt des Opfers zerstört. Kulturelle Schöpfungen seien in der Lage, gerade das Gegenteil zu bewirken - indem der menschliche Körper nämlich befähigt würde, sich durch ihre Anwendung der zerstörerischen Kraft des Schmerzes zu widersetzen und ihn zu überwinden. Scarrys universell angelegter Erklärungsansatz wirft auch ein Schlaglicht darauf, dass das Streben nach dem ganz großen Wurf - was ist das Wesen des Schmerzes, lautet hier die Gretchenfrage - unendlich viel Platz lässt für Details, Interpretationen, subtile Differenzierungen, aber auch für prätentiöses Auftreten, wie es sich in anderen Publikationen niedergeschlagen hat. Denn es gibt keine Begriffe in den Kulturwissenschaften, die noch universeller angelegt sein können als die Begriffe "Kultur" und "Schmerz". Zum anderen ist Scarrys Mono grafie The Body in Pain (Der Körper im Schmerz) aus dem Jahr 1985 selbst schon ein (zeit-)historisches Dokument, indem es die politischen Bedingungen der Reagan-Ära in den USA widerspiegelt. Ab 1981 wurden Patienten, die unter chronischem Schmerz litten, im konservativen politischen Klima der USA argwöhnisch beäugt, da man "gelernte Hilflosigkeit" als gängigen verursachenden Faktor ansah und diejenigen, die darunter litten, wegen ihrer Schwäche anklagte [850]. Scarrys Studie kann als Stellungnahme gelesen werden, die Bestrebungen, lang andauernden, chronischen Schmerzen medizinisch zu Leibe zu rücken ("management of pain"), nicht zu unterbinden. Sie ist selbst politisch, was zugleich ein Schlaglicht darauf wirft, dass die Geschichte der Schmerztherapie immer auch Politikgeschichte ist.

Schmerzen sind eine Empfindung, Schmerz ist aber auch ein Gefühl. Die Beschäftigung mit Gefühlen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Philosophie und in den Kognitionswissenschaften in den Vordergrund gerückt. Dabei herrscht kein Konsens bei der Beantwortung der Frage, ob und wie "Emotion" und "Gefühl" voneinander abzugrenzen sind. Der Neurowissenschaftler António Damásio beispielsweise hat in seinem Buch Self comes to mind eine Theorie entwickelt, in der er "Gefühl" zum Derivat von "Emotion" erk



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