Ein Lied von gestern?

Zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes

Von Gallé, Volker (Hrsg.)

Worms-Verlag, 2009, 237 S., Kart.

ISBN: 978-3-936118-25-4

16,50 €

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In der Zeit um 1000 n.Chr. entstand der Mythos vom europäischen Zivilisationsprozess und seinem globalen Missionsauftrag, wie er heute noch unser Selbstverständnis prägt. In der höfischen Literatur wird das Ideal des triebgehemmten, sich zum Humanen entwickelnden Individuums in der Figur des ritterlichen Helden angelegt. Die literarischen Texte der staufischen Katastrophenzeit um 1200 begeistern oder entsetzen uns noch heute.

Aber das Selbstverständnis des Einzelnen in der europäischen Gesellschaft hat sich in den letzten 800 Jahren gewandelt und differenziert. Daher müssen die mittelalterlichen Texte nicht nur übersetzt werden, sondern ihre Begriffe auch von der heutigen Bedeutung und der bisherigen Rezeption stufenweise abgesetzt werden. Am meisten beschäftigt uns heute das Heldenbild des Nibelungenlieds und der propagandistische Missbrauch durch die Nationalsozialisten.

Nach 1945 sind die nationalistischen Wunschbilder nicht aufgearbeitet, sondern ersetzt worden durch die populären Mythen der angloamerikanischen und französischen Welt: König Artus, Prinz Eisenherz, Ivanhoe und Asterix der Gallier besetzen seitdem die älteren Urbilder des europäischen Zivilisationsprozesses. Mit einem Unterschied: Der anonyme Dichter des Nibelungenliedes hat das höfische Heldenbild kritisch hinterfragt und die destruktiven Komponenten der Triebwelt im Untergang der Burgunder zu Ende gedacht.

Es ist also keineswegs so, dass man diese »alte maere« so einfach loswerden kann. Im Gegenteil: Man kann sie aktualisieren und dabei die Stationen ihrer Rezeption streifen, womit man sie aus dem Dunkel ans Licht holt. neben der Personenkonstellation und ihrer psychischen Dynamik, die heute als »Story von Sex and Crime« präsentiert werden kann, gibt es aktuelle Bezüge beim Thema Migration sowie bei der Hinterfragung von Nation/Stamm und dem männlichen Heldenmonopol. Auch die Frage nach der Beziehung von Gewalt und Selbstbild in der heidnischen und der christlich-römisch-germanischen Tradition ist durch die immer noch nicht aufgearbeitete Geschichte der antisemitischen NS-Verbrechen virulent.

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