Tattva Viveka Nr. 99

Zeitschrift für Wissenschaft, Philosophie & spirituelle Kultur

Tattva Viveka, Ca. 92 S., DIN A4, Ausgabe Juni 2024, Nr. 99

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,
 
 
»Gott ist tot«, hatte Nietzsche verkündet. Der Satz geht allerdings weiter: »und wir (das Christentum) haben ihn getötet«[1]. Es war wohl nicht Nietzsches Absicht, eine metaphysische Aussage über die Existenz Gottes zu machen. Vielmehr waren diese Worte gegen eine bestimmte Art von Religion gerichtet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«. Das sind die letzten Worte in dem Text.
 
 
Es ist offensichtlich, wir brauchen eine neue Religion oder besser eine neue Form der Spiritualität. Die Idee der Spiritualität an sich ist schon ein alternativer Entwurf zur traditionellen Religion. Spiritualität ist nicht an eine bestimmte Glaubensrichtung, Zeit oder geographische Region gebunden. Sie fußt nicht zwingend auf autoritativen Schriften oder Priesterschaften, denn sie orientiert sich an der eigenen persönlichen Erfahrung. Spiritualität transzendiert und integriert Kulturen, Glaubenssysteme, Ideologien. Insofern ist sie, im Unterschied zur Religion, mit der Wissenschaft kompatibel, wie der anerkannte Philosoph Prof. Dr. Thomas Metzinger überzeugend dargelegt hat.[2]
 
Viele Menschen aus dem heutigen ganzheitlichen, spirituellen Spektrum haben kein Problem damit, verschiedene Religionen miteinander zu verbinden oder Elemente aus verschiedenen Traditionen zu entnehmen und daraus etwas Neues zu gestalten. Wir können am selben Abend ein indianisches Schwitzhüttenritual machen und indische Mantras chanten, in christlichen Klöstern werden buddhistische Meditation angeboten, praktisch jeden Tag fühlt sich ein/e Erleuchtete/r berufen, eine neue Lehre zu verkünden. Die publizistischen Möglichkeiten im Internet unterstützen diese Dynamik.
 
 
Die Menschheit wird zu einem globalen Dorf und es bilden sich Bewusstseinsstämme, die unabhängig von der Geographie neue weltweite Gemeinschaften entstehen lassen. Neue Herausforderungen bieten neue Möglichkeiten, im Guten wie im Schlechten. Oberflächliche Beliebigkeit, Konsumhaltung und spiritueller Narzissmus bedienen den Neoliberalismus. Gleichwohl können wir hinter diese Stufe der Individualisierung wohl nicht mehr zurück.
 
Das Gute daran ist, dass wir uns nun auf unsere persönliche Erfahrung stützen und die Verantwortung für uns übernehmen. Keine noch so vollkommene Lehre kann uns das abnehmen. Es sind immer noch wir Menschen selbst, die wahrnehmen und tun. Auch unsere Erfahrung von Göttin-Gott liegt somit in unserer eigenen Verantwortung und Freiheit.
 
 
 
 
 
[1] »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?« — Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Der tolle Mensch, Drittes Buch, 125.
 
[2] Siehe den Beitrag in dieser Ausgabe und ausführlicher in Tattva Viveka 69: Th. Metzinger – Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit.

 



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