Rezension zu: "Die Offenbarung des Absoluten in der Phänomenalität des Lebendigen"
von Sarah Eichner
Datum hinzugefügt: Samstag, 12. Februar 2011
Yijing als scientia intuitiva
„Worauf bei allem Philosophieren [...] das Hauptgewicht zu legen [ist], ist freilich die Methode des notwendigen Zusammenhangs, des Übergehens einer Form in die andere.“ (Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hofmeister, Band I, Hamburg 1952, S.330.)
Für eine Studentin der Philosophie und Theologie, die sich mit den großen Systemen der Philosophiegeschichte im Kontext ihrer Konstellationen und inneren Wirkzusammenhänge auseinandergesetzt hat, ist es erstaunlich zu sehen, wie die von René Van Osten vermittelte Vorgehensweise des Yijing ein universales ‚Werkzeug’ an die Hand zu geben vermag, das jene so zentralen Übergänge, die erst den notwendigen Zusammenhang des (systematischen) Ganzen ergeben, konkret sichtbar werden lässt. Seine Herangehensweise verdient es daher in einem ganz besonderen Maße eine Methode genannt zu werden. Eine Methode [griechisch μέθοδο-
ς] ist freilich zugleich ein individueller Weg [ὁδός], eine Art und Weise des Erschließens (der Textur oder des Korpus) eines Werkes. Der Korpus oder die innere Textur des Yijing verbindet auf eine sehr komplexe Weise verschiedene Möglichkeiten des Verstehens, womit zugleich auch die Wege, diese Möglichkeiten zu erschließen, vielfältig sind. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Entschlüsselungen der Trigramme, die als die Grundbausteine der inneren Textur des Yijing angesehen werden können. Das Lebendige hinter oder zwischen den Schriftzeichen, die gleichsam die Grundfigur der durch die einzelnen Hexagramme ausgedrückten Bewegung symbolisieren, offenbart sich erst in der Tiefenanalyse der Trigramme, ihrer Zusammenhänge und inneren Logik. Genau diesem komplexen Aufeinanderbezogensein – der Dialektik der Trigramme -, ihren Übergängen und Wandlungsmustern, die dann zu einem lebendigen Ganzen (in Form der Hexagramme) führen, nachzugehen, ist der Verdienst von René van Osten, sein Weg oder seine Methode. Die Offenbarung des Absoluten in der Phänomenalität des Lebendigen legt Zeugnis vom Gelingen dieser Pionierarbeit von René Van Osten ab und gewährt dem lernbereiten „Schüler“ einen unglaublichen Einblick in die Tiefenzusammenhänge des Lebens und seiner Wandlungen im Strichcode des Yijing. Seine Arbeit ist von jenem großen Geist der Philosophen und Weisen beseelt, der vor keiner positiv d.h. historisch, philologisch, sinnologisch oder systematisch gesetzten Grenze konventioneller Auslegung – der Dogmatik, die jedem großen Werk anhaftet – Halt machen darf. Weil das Verstehen hier aus der Immanenz der Sache selbst geschöpft ist, gewinnen all die Querverbindungen, die René van Osten zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie Physik, Medizin, Biologie, Astronomie, Psychologie, Philosophie und Theologie zieht, einen sinnvollen und eigenständigen Wert. So entspricht auch der ‚Stil’ dieses Autors, seine individuelle Sprache ganz dem inneren Gehalt dieser Arbeit mit dem Yijing, welche ich mit einem Worte Spinozas als eine scientia intuitiva bezeichnen möchte. Erst in der Sprengung und Dynamisierung von konventionellen Auslegungsweisen wissenschaftlichen Arbeitens, welche die Tiefe und Erscheinungsmannigfaltigkeit der Phänomene, wie sie durch das ‚Buch der Wandlungen’ beschrieben sind, verfehlen würden, gelingt es – wie Herr Van Osten einschlägig beweist – den inneren Korpus dieses fulminanten Werkes offenzulegen und fruchtbar zu machen für vielfältige Weisen der produktiven Umsetzung und Anwendung in verschiedenen Bereichen des praktischen Lebens. Meine persönliche Erfahrung mit dem Yijing hat mir gezeigt, dass die Sprache auf eine bestimmte Weise gebrochen werden muss, um das Leben zu berühren: dies bedeutet aber nicht bloß ein beredtes Schweigen im Angesicht des Unsagbaren, sondern die Entwicklung eines intuitiven Verstehens und aus der Perspektive der Philosophie betrachtet, eines morphologischen Denkens, das mit Intellektualität wenig gemeinsam hat. Dieses Denken ist nicht abstrakt, sondern ein Denken, das sich mit seinem Gegenstand wandelt, das anschauendes Denken ist, worin sich die Mannigfaltigkeit des Lebendigen in einem Bild offenbart und auf diese Weise zu einer Erfahrung der höheren Art wird. René van Osten ist es auf eine beispiellose Weise gelungen die Grundidee einer scientia intuitiva, die offenbar auch die Meister der daoistischen Lehre im Blick hatten, wenn sie von einer „Wissenschaft vom Sinn und Leben“ sprechen, in seiner Auslegung und Tiefenanalyse des Korpus des Yijing zu entwickeln und auf diese Weise dem nahezu unausschöpflichen Reichtum an Wissen und Weisheit, wie er uns durch das ‚Buch der Wandlungen’ überliefert ist, zu einer neuen Gestalt zu verhelfen. Im Durchgang durch das Werk von René van Osten zeigt sich dann auch jene konkrete Idee des Allgemeinen, das sich in zahllosen, raumzeitlichen Variationen und Gestaltungen manifestiert - aber erst durch die rechte Methode, die alle Eigenschaften seines Gegenstandes aus dessen Wesenheiten herleitet und zwar so, dass die Folge der Beweisschritte lückenlos vorliegt und konsequent durchlaufen wird, gelingt der Blick auf das Ganze. Genau dies ist der Anspruch, den bereits Spinoza als die Voraussetzung einer gelingenden scientia intuitiva erkannt hat.
Bei soviel Adäquatheit in der Entsprechung von Form und Inhalt sei zuletzt noch darauf hingewiesen, dass das Buch von René van Osten gerade auch in Bezug auf den Aufbau und das Format, der Kombination aus Praxis (schematische Darstellungen) und Theorie (Erläuterungen) den Kriterien eines anspruchsvollen Standartwerkes für das Studium des Yijing in einem besonderen Maße gerecht wird und damit seinen „Preis“ – sofern er materiell überhaupt ermesslich ist – absolut wert ist.
Sarah Eichner, Bachelor of Arts (Philosophie und Theologie), Studentin im Studiengang Master of Arts (Philosophie) an der Universität Heidelberg
Bewertung: [5 von 5 Sternen!]